Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Vom Menschen eingeführte Arten nehmen in Deutschland zu, ihre Zahl kann jedoch den Verlust an Pflanzenarten nicht ersetzen. Das Schmalblättrige Greiskraut (Senecio inaequidens) ist ursprünglich im südlichen Afrika beheimatet, inzwischen jedoch weltweit verbreitet.
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Studie: Pflanzenvielfalt in Deutschland auf dem Rückzug

Nummer 182/2020 vom 16. Dezember 2020
In Deutschland findet ein schleichender Verlust der Artenvielfalt statt. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Bestand zahlreicher weit verbreiteter Arten im Durchschnitt um 15 Prozent zurückgegangen. Das geht aus der bislang umfassendsten Auswertung von Pflanzendaten aus Deutschland vor, die heute im Fachjournal "Global Change Biology" erscheint. 29 Millionen Daten zur Verbreitung von Gefäßpflanzen flossen in die Analysen ein, die vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) koordiniert wurden. Beteiligt waren daneben die Universitäten in Halle, Jena und Rostock sowie das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und das Bundesamt für Naturschutz (BfN).

In der Fläche ist über ganz Deutschland ein Rückgang der Artenvielfalt um rund zwei Prozent pro Jahrzehnt zu verzeichnen. Zu den Verlierern zählen insbesondere Archäophyten. Das sind Arten, die durch den Menschen, aber bereits vor der Entdeckung Amerikas nach Deutschland gelangten. Dazu gehören unter anderem große Teile unserer Ackerbegleitflora, wie die Saat-Wucherblume und der Echte Frauenspiegel, aber auch Arten wie der Große Klappertopf und der Gute Heinrich. Dagegen konnten sich viele Neophyten, also Arten, die nach 1492 Deutschland erreicht haben, ausbreiten, wie zum Beispiel das Drüsige Springkraut oder das Schmalblättrige Greiskraut. Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass selbst diese Zunahme die Verluste der Artenzahl pro betrachteter Flächeneinheit nicht ausgleichen konnten.

Studie zeigt schleichenden Biodiversitätsverlust in Deutschland

Für die Studie wurden erstmals für Deutschland derart große und heterogene Datensätze zusammengeführt und statistisch belastbar ausgewertet. Grundlage dafür war die Datenbank FlorKart, in der das BfN Verbreitungsdaten der Flora Deutschlands zusammengefasst hat. Sie sind überwiegend das Ergebnis intensiver ehrenamtlicher und für den Naturschutz unverzichtbarer Kartierungsleistungen. Ergänzt wurde der Datensatz durch weitere, an Universitäten, anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, aber auch durch Privatpersonen erhobene Datensätze zu Pflanzenvorkommen. An der MLU etwa betreut die Biologin Dr. Ute Jandt die Deutsche Vegetationsdatenbank, die über 200.000 Vegetationsaufnahmen aus veröffentlichten und unveröffentlichten Studien beinhaltet. "Nur durch die Integration dieser sehr vielen verschiedenen Datenbanken und Quellen wurde es möglich, einen derart detaillierten Blick auf den Verlauf der Artenvielfalt zu erhalten", sagt Prof. Dr. Helge Bruelheide vom Institut für Geobotanik der MLU. Die Nachweislücken wurden durch Berechnungen von Vorkommenswahrscheinlichkeiten gefüllt. Verbreitungsdaten von 2.136 der gut 4.300 in Deutschland etablierten Pflanzenarten flossen in die Berechnungen ein. Nicht untersucht wurden Arten mit sehr geringen Meldehäufigkeiten. Bei über 70 Prozent der untersuchten Arten sind in den letzten 60 Jahren deutschlandweit Rückgänge zu beobachten.

BfN-Präsidentin Prof. Dr. Beate Jessel schlussfolgert: "Es wird einmal mehr deutlich, dass wir in unserem Umgang mit Natur und Landschaft zu einem Umdenken kommen müssen. Denn die in der Studie nachgewiesenen Bestandsrückgänge erstrecken sich über die gesamte Fläche Deutschlands. Das macht deutlich: Wir müssen breit in der Fläche an der Land- und Forstwirtschaft ansetzen, die beide zusammen ja 80 Prozent der Flächen in Deutschland einnehmen. Naturverträglichere Nutzungsformen sind dringend geboten."

Vom Menschen eingeführte Pflanzenarten nehmen zu

"Die Ergebnisse haben uns in dieser Deutlichkeit wirklich überrascht. Sie zeichnen ein sehr düsteres Bild des Zustandes der Pflanzenvielfalt in Deutschland", sagt Erstautor Dr. David Eichenberg von iDiv. "Dabei wurde bestätigt, dass die Rückgänge nicht auf die ohnehin seltenen oder besonders gefährdeten Arten beschränkt sind, sondern offensichtlich schon seit längerem ein schleichender Biodiversitätsverlust der Mehrzahl der Pflanzenarten in Deutschland stattfindet."

Die Autoren halten es für wahrscheinlich, dass der beobachtete Rückgang der Pflanzenvielfalt wesentliche Auswirkungen auf die Biodiversität und die Leistungen von Ökosystemen hat. Aufgrund der oft sehr komplexen Zusammenhänge zum Beispiel über Nahrungsnetze und Kaskadeneffekte, können derartige Verluste sehr gravierende Auswirkungen haben. Offensichtlich werden die vielschichtigen Beziehungen bei den Insekten, die sowohl in ihrer Vielfalt als auch in ihrer Häufigkeit abnehmen.

Die Studie zeigt aber auch, dass die Datenlage weiterhin verbessert werden muss, um auch schleichende Verluste der biologischen Vielfalt möglichst frühzeitig zu entdecken. Um dies zu erreichen, legt das Bundesamt für Naturschutz gerade die Grundlagen für ein Monitoring mittelhäufiger Pflanzenarten in Deutschland. Im Gegensatz zu seltenen Arten, deren Bestände und Vorkommen oft gut untersucht sind, fallen Verluste bei den mittelhäufigen bis häufigen Arten mit den gegenwärtigen Erfassungsmethoden erst spät oder gar nicht auf.

Die Arbeit wurde im Rahmen des Projekts "sMon" bei iDiv koordiniert. "sMon" hat das Ziel, exemplarische Datensätze zu verschiedenen Taxa und Habitaten zusammenzuführen und die Möglichkeiten und Grenzen für die Analyse von Biodiversitätsveränderungen auszuloten. Darauf aufbauend sollen Perspektiven für zukünftige Monitoring-Programme in Deutschland abgeleitet werden. Einzigartig ist der integrative Charakter, der über alle Bundesländer Behördenvertreter, Wissenschaftler und Vertreter verschiedener Fachgesellschaften in einem Projekt vereint.

Zur Studie: Eichenberg, D. et al. Widespread decline in Central European plant diversity across six decades. Global Change Biology (2020). DOI: 10.1111/gcb.15447

 

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