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Entwicklungsgenetik: Wie sich Keimzellen von ihren Eltern abnabeln
Am Anfang der Entwicklung eines neuen Organismus hat die Mutter das Sagen: Zwar verschmelzen bei der Befruchtung Eizelle und Spermium zu einer einzigen neuen Zelle. Doch wie sie sich teilt und wie so ein neues Lebewesen entsteht, wird zunächst durch die Mutterzelle vorgegeben. "Egal, um welchen Organismus es sich handelt: Die erste Zellteilung, die passiert, ist durch die Mutter vorprogrammiert", sagt der Genetiker Prof. Dr. Christian Eckmann von der MLU. Die Zelle der Mutter liefert quasi ein Starter-Set für die Entwicklung: einerseits erste Proteine und andererseits RNA-Moleküle, die als Blaupause für weitere Proteine dienen. All das ist nötig, um die Zellteilung und weitere Entwicklung des Organismus in Gang zu bringen.
Während dieser Anfangszeit hat die Zelle aber fast keinen Zugriff auf ihr eigenes Erbgut, ihre eigene Entwicklung ist dadurch eingeschränkt. "So wichtig diese Beigabe für die neue Zelle ist, ab einem gewissen Zeitpunkt muss sie sich der mütterlichen Komponenten entledigen. Erst dann kann sie vollständig ihr eigenes Erbgut ausnutzen, um ihr eigenes Entwicklungsprogramm zu durchlaufen", so Eckmann weiter. In Keimzellen, den Vorgängern der Geschlechtszellen, beginnen diese Prozesse im Vergleich zu somatischen Zellen, aus denen sich alle anderen Körperzellen entwickeln, deutlich später. "Zellen haben sehr viele Möglichkeiten, etwas zum Sterben zu bringen. Langlebigkeit muss erkauft werden", sagt Eckmann. In den jungen Keimzellen sorgen sogenannte Poly-A-Polymerasen dafür, dass die eigentlich kurzlebigen RNA-Moleküle der Mutter mit einer Art Schutzkappe versehen werden und so länger erhalten bleiben.
In Versuchen mit dem Modellorganismus C. elegans fand Eckmanns Team heraus, wie der molekulare Abnabelungsprozess in Keimzellen funktioniert: Ab einem gewissen Zeitpunkt wird das Protein GRIF-1 in den Zellen produziert, die Anleitung dafür kommt von der maternalen RNA. Sobald das Protein gebildet ist, macht es sich auf die Suche nach den mütterlichen Poly-A-Polymerasen, bindet sich an diese und versieht sie mit einer Art Markierung. "Das kann man sich wie eine Flagge vorstellen, mit der GRIF-1 darauf aufmerksam macht, dass bestimmte mütterliche Proteine abgebaut werden sollen", sagt Eckmann. Das setzt eine Kettenreaktion in Gang: Werden die Poly-A-Polymerasen zerstört, können sie keine neuen Schutzkappen an die mütterlichen RNA-Moleküle anhängen, die wiederum sie vor dem Abbau schützen. "So werden schließlich alle maternalen RNA-Moleküle und Proteine eliminiert. Die Keimzelle erhält den vollen Zugriff auf ihr Erbgut und kann sich weiterentwickeln", fasst Eckmann zusammen. Woher die Zelle wisse, dass sie das GRIF-1 produzieren und dass sie ihr eigenes Erbgut aktivieren muss, sei noch unklar.
Diese lange Kontrolle hat übrigens einen guten Grund: Das Erbgut in den Keimzellen wird über Spermien oder Eizellen an die Nachkommen weitergegeben. Deshalb muss es möglichst komplett und fehlerfrei erhalten bleiben. Im Labor verhinderten die Forschenden um Eckmann diesen Abbauprozess bei C. elegans künstlich. "Ist dieser Prozess gestört, kommt es zu Problemen: Die Keimbahn kann sich nicht robust entwickeln und die Nachkommen der Würmer werden mit jeder Generation unfruchtbarer", so Eckmann abschließend.
Die Arbeit wurde im Rahmen des Graduiertenkollegs "GRK 2467: Intrinsisch ungeordnete Proteine - Molekulare Prinzipien, zelluläre Funktionen und Krankheiten" von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt.
Studie: Oyewale T.D., Eckmann C.R. Germline immortality relies on TRIM32-mediated turnover of a maternal mRNA activator in C. elegans. Science Advances (2022). doi: 10.1126/sciadv.abn0897