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Erste umfassende Analyse zur Artenvielfalt in Deutschland: Mehr als 10.000 Arten sind gefährdet
In kaum einem Land wird so viel zur biologischen Vielfalt geforscht wie in Deutschland. Für den Faktencheck Artenvielfalt (FA) haben mehr als 150 Wissenschaftler*innen von 75 Institutionen und Verbänden nun die Erkenntnisse aus über 6.000 Publikationen ausgewertet und in einer eigens dafür entwickelten Datenbank zusammengeführt. Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, haben sie einen bisher noch nicht dagewesenen Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6.200 Zeitreihen erstellt und analysiert. "Der Faktencheck Artenvielfalt ist weltweit eines der ersten Beispiele, wie große internationale Berichte - wie die globalen und regionalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES - auf einen nationalen Kontext zugeschnitten aussehen können; mit dem Ziel, Handlungsoptionen für die konkrete nationale und subnationale Politik aufzuzeigen und zu entwickeln", erklärt Christian Wirth, Professor an der Universität Leipzig und einer der Mitherausgeber des FA.
Die Ergebnisse sind ernüchternd. Insgesamt sind 60 Prozent der 93 untersuchten Lebensraumtypen in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Der FA stellt nur wenige positive Entwicklungen fest, wie beispielsweise in Laubwäldern - doch diese werden akut vom Klimawandel bedroht.
10.000 Arten in Deutschland sind bestandsgefährdet
Von den 72.000 bekannten in Deutschland heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang erst 40 Prozent auf die Gefährdung der Population hin untersucht. Von diesen Arten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet. Die Gefährdung nimmt zu bei Arten des Agrar- und Offenlandes und in anderen, vor allem in artenreichen Gruppen wie Insekten, Weichtiere oder Pflanzen. "Die Zeitreihen zeigen, dass sich die Trends der Lebensräume und Populationen nun auch in der biologischen Vielfalt von Lebensgemeinschaften niederschlagen. Naturnahe Lebensgemeinschaften beginnen an Arten zu verarmen. Gleichzeitig sehen wir eine beschleunigte Verschiebung hin zu neuartigen Lebensgemeinschaften mit zunehmendem Anteil gebietsfremder Arten", sagt Jori Maylin Marx, Wissenschaftlerin an der Universität Leipzig und Mitherausgeberin des FA.
Besonders wenige Daten gibt es über die Bodenbiodiversität und die Artenvielfalt in den stetig wachsenden urbanen Räumen. "Wo die Datengrundlage vorhanden ist, stellen wir ein anderes Problem fest: Es gibt kein einheitliches arten- und lebensraumübergreifendes System, um biologische Vielfalt zu erfassen. Das erschwert die Verknüpfung von Daten - und damit die wissenschaftliche Auswertung. Außerdem fehlen Langzeitdokumentationen. Der Großteil der von uns ausgewerteten Zeitreihen war zu kurz, um statistisch signifikante Trends zu ergeben", erklärt Helge Bruelheide, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und Mitherausgeber des FA. "Durch die unzureichende Datengrundlage sind auch die genauen Ursachen des Verlusts biologischer Vielfalt nur ungenügend bekannt. Das liegt vor allem daran, dass die von uns Menschen verursachten Einflüsse bislang entweder gar nicht oder nur unvollständig und in den meisten Fällen unabhängig von der Erfassung der biologischen Vielfalt erhoben werden", ergänzt Josef Settele, Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), außerplanmäßiger Professor an der MLU und Mitherausgeber des FA.
Mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen
Klar belegbar ist, dass der Verlust von Lebensräumen und die Intensivierung der Nutzung von Kulturlandschaften den stärksten negativen Effekt auf die biologische Vielfalt haben, auch erste Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Die Intensivierung der Landwirtschaft hat negative Effekte in fast allen Lebensräumen, nicht nur im Agar- und Offenland, und bietet damit den größten Hebel für biodiversitätsschützende Ansätze. Der FA zeigt auch positive Entwicklungen einiger Artengruppen und Lebensräume, zum Beispiel durch die Verbesserung der Wasserqualität unserer Flüsse und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern und in der Agrarlandschaft. "Das zeigt, dass wir mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen können", erklärt Nina Farwig, Professorin an der Philipps-Universität Marburg und FA-Mitherausgeberin. "Für eine echte Trendwende müssen wir die Natur verstärkt wiederherstellen. Vor allem aber müssen wir lernen, mit der Natur zu wirtschaften - nicht gegen sie. Das kann auch bedeuten, dass wir ökologische Folgekosten in Wirtschaftsberichten bilanzieren. Vor allem müssen neue biodiversitätsbasierte Landnutzungssysteme entwickelt werden. Moderne Technologien können hierbei helfen."
Rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik sind unzureichend umgesetzt oder vollzogen, oft durch eine fehlende Abstimmung mit anderen Nutzungsinteressen, kritisiert der FA. Förderungen knüpfen oft an die reine Durchführung biodiversitätsfördernder Maßnahmen an, dagegen versprechen erfolgsbasierte finanzielle Anreize einen größeren positiven Einfluss. Eine größere Verbindlichkeit könnte der Biodiversitätsschutz auch dadurch erhalten, wenn er an höherrangige Rechte geknüpft würde, beispielsweise in Form eines Menschenrechts auf gesunde Umwelt oder eines grundgesetzlich gewährleisteten Eigenrechts der Natur. Für das hierzu notwendige weitreichende Umdenken liefert der FA Empfehlungen, denn die Wissenschaftler*innen haben erfolgreiche Projekte analysiert, um die Bedingungen für Transformation zu verstehen. Sie identifizieren eine Vielfalt von Motivationen und Akteur*innen, gelungene Partizipation und auch ökonomischen Nutzen als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Ansätze.
Biologische Vielfalt zahlt sich aus
Biologisch vielfältige Ökosysteme sind leistungsfähiger und stabiler. Sie versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sie halten die Nährstoffkreisläufe aufrecht, schützen das Klima, halten das Wasser in der Landschaft. "Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst", erklärt Volker Mosbrugger, Sprecher der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA), in der das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Faktencheck Artenvielfalt gefördert hat. "Mit dem Faktencheck Artenvielfalt ist ein höchst beeindruckendes Referenz- und Nachschlagewerk entstanden, das die wissenschaftliche Basis legt, um praxisnahe, wirksame Maßnahmen zum Biodiversitätserhalt in Deutschland zu ergreifen."
Der wissenschaftliche Bericht "Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland" ist heute im oekom-Verlag erschienen und steht online zum kostenlosen Download bereit. Er wird flankiert von einer Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung.
Weitere Informationen zum Faktencheck unter www.feda.bio/faktencheck
Publikationen:
Christian Wirth, Helge Bruelheide, Nina Farwig, Jori Maylin Marx, Josef Settele (Hrsg.). Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland.
oekom-Verlag, 2024. ISBN: 978-3-98726-095-7; doi: 10.14512/9783987263361
Christian Wirth, Helge Bruelheide, Nina Farwig, Jori Maylin Marx, Josef Settele (Hrsg.). Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland. Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung. oekom-Verlag, 2024.
ISBN: 978-3-98726-096-4; doi: 10.14512/9783987263378
In der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wissenschaftliche Projekte zur Analyse der Biodiversität in Deutschland sowie zur Entwicklung und Umsetzung innovativer, effektiver Maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der biologischen Vielfalt. Derzeit gehören 39 Projekte zur FEdA. Die Initiative unterstützt dabei im Sinne einer "transformativen" Wissenschaft den zielgerichteten Austausch zwischen Forschung, Politik, Wirtschaft, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Zivilgesellschaft. Mehr Informationen unter www.feda.bio.